UMWELT, WISSENSCHAFT, TECHNIKDienstag, 16. Januar 2001
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Es gab nie einen Arno in Arnstadt

Die Vorfahren der Basken prägten die Ortsnamen in ganz Europa

Von Elisabeth Hamel

Ebrach heißt ein Flüsslein in Ebersberg bei München, Ebro ein Strom, der Spanien durchzieht. Dass ihre Namen miteinander verwandt sein sollen, mag auf den ersten Blick als kühne Behauptung abgetan werden. Dem Tübinger Indogermanisten Hans Krahe war aber bereits in den 50er-Jahren aufgefallen, dass die Gewässernamen Europas sowohl in der Wortsubstanz als auch im Wortbau überraschend einheitlich sind – und zwar im gesamten Gebiet von der Pyrenäenhalbinsel bis nach Großbritannien, von Südskandinavien bis zum Baltikum; neuerdings darf man sogar Marokko einschließen.

Auch der Münchner Linguist Theo Vennemann hält die Ähnlichkeit der Fluss- wie auch der Ortsnamen in Europa keineswegs für Zufall. Während Krahe die Wortbausteine aber aus einer indogermanischen Wurzel abzuleiten versuchte, führt Vennemann sie auf eine ganz andere Ursprungssprache zurück. „Wie können die Orts- und Gewässernamen auf der Iberischen Halbinsel das gleiche Gepräge wie im übrigen Europa haben, wenn indogermanische Stämme erst im ersten Jahrtausend vor Christus nach Spanien kamen?“, fragt er. Und nach Nordafrika kamen die aus dem Osten eingewanderten Indoeuropäer als Römer und Wandalen noch viel später – da waren die Namen aller wichtigen Örtlichkeiten längst vergeben worden.

Schließlich gilt bei Fluss- und Ortsnamen der Grundsatz: Wer zuerst kommt, der benennt. Daher sind solche Namen die ältesten Relikte früherer Sprachschichten, welche selbst längst ausgestorben sein können. Spätere Einwanderer übernehmen die Bezeichnungen meist ohne erhebliche Veränderung. So passten die Römer bei der Eroberung Germaniens die meisten Ortsnamen nur leicht ans Lateinische an. Nicht anders machten es die amerikanischen und australischen Siedler, als sie Ortsnamen von den Indianern oder Aborigines übernahmen.

Lake Chiemsee

Noch nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich ähnliche Strukturen: etwa, als US-Soldaten die Autobahnausfahrt zu ihrem Erholungsgebiet am Chiemsee mit dem Hinweisschild Lake Chiemsee versahen: „See Chiemsee“. Seit Jahrtausenden finden sich solche Doppelungen überall in der Welt. So enthält der Name des japanischen Biwako (Biwasee) ebenfalls zweimal das Wort „See“. Denn neben dem japanischen „ko“ bedeutet auch „biwa“ See – in der Sprache der Urbewohner. Nun heißt das Gewässer ebenso wie der Lake Tahoe in Nordamerika eigentlich „Seesee“ und der englische Pendle Hill sogar „Hügelhügelhügel“.

Tradierte Sagen über die Namen von Orten haben nach Vennemanns Ansicht dagegen selten geschichtlichen Wahrheitsgehalt. Es gab zum Beispiel nie einen Ortsgründer namens Arno in Arnstadt. Auch ist es falsch, dass Städtenamen mit „Eber“ in ganz Deutschland mit dem männlichen Schwein in Verbindung gebracht werden. In Frankreich passiert dieser Fehler nicht, da Ortsnamen mit dem gleichen Wortstamm – wie Ibarolle oder Ivreux – dem französischen Wort für Eber (sanglier) nicht ähneln. So präsentiert sich in jeder Sprache eine eigene hausgemachte Etymologie.

Richtig sei es vielmehr, so der Münchner Sprachwissenschaftler, bei der Deutung von Orts-, Fluss- und Bergnamen in erster Linie die Landschaft zu berücksichtigen. Meist trügen die Objekte als Namen die sachliche Kurzbeschreibung ihrer selbst: Der Berg heißt Berg, der Bach heißt Bach und die Quelle Quelle. „Dabei müssen natürlich auch älteste schriftliche Benennungen ausgewertet werden“, betont Vennemann.

Doch aus welcher Sprache stammen diese alten Wortelemente? Da Orte und Flüsse von frühen Bewohnern Europas einheitlich benannt wurden, müssen ihre Sprachen nahe verwandt gewesen sein. Auffallend ist auch, dass die Gewässernamen fast zur Hälfte mit einem Vokal beginnen, besonders häufig mit „a“. Beides ist übrigens für die indogermanischen Sprachen untypisch, sodass hier weitere Indizien gegen die alte These zusammenkommen, diese Sprachfamilie hätte die Ortsnamen in Europa geprägt.

Als er ein baskisches Wörterbuch aufschlug, hat Theo Vennemann eine andere Entdeckung gemacht: Ein Drittel der Buchseiten darin enthielten Wörter mit dem Anfangsbuchstaben „a“. Häufig waren auch Wörter, die mit den Vokalen „i“ und „u“ beginnen. Aber ist das Gebiet, in dem Baskisch gesprochen wird, nicht sehr klein? Heutzutage ja, doch das heutige Baskenland ist das Ergebnis eines langen Schrumpfungsprozesses, der vor fünf oder mehr Jahrtausenden eingesetzt haben dürfte – mit der Einwanderung der Indogermanen. Bis dahin hatten die Basken fast ganz Europa besiedelt.

Verräterische Zwanzig

Es gibt ein weiteres Indiz für ein großräumiges vorgeschichtliches Siedlungsgebiet der Basken: die Verwendung der Zwanzigerzählung in den europäischen Sprachen. Wer Französisch gelernt hat, kennt die Besonderheit der Zahlen 70, 80 und 90: Sie heißen in Frankreich 60 plus 10, 4 mal 20 und 4 mal 20 plus 10. Die Hauptzähleinheit ist also die 20. Im Baskischen ist diese Zähleinheit vollständig von 20 bis 90 erhalten. Die Vorfahren der Basken dürften demnach in 20er-Schritten gezählt haben, wie es manche Indianerstämme, die Ainu und vereinzelte Stämme Afrikas bis heute tun. Die indogermanische Zählung ist hingegen auf der 10 aufgebaut. Dass das 20er-System aber älter ist als diese heute weit verbreitete Dezimalzählung, zeigt das Altfranzösische: Hier wurde bis 360 in 20er-Schritten gezählt. Interessanterweise zählt man übrigens auch in dem Dialekt Tachelhit vollständig in 20er-Einheiten: Er wird im Süden Marokkos gesprochen.

Das Zwanzigersystem und die Ortsnamen stammen somit nach Vennemanns Ansicht von einer vorgeschichtlichen Bevölkerung, die Europa und eventuell Nordafrika vor den Indogermanen bewohnte. Demnach sprechen die heutigen Basken die gegenwärtige Version dieser alten Sprache, die Vennemann als „Vaskonisch“ bezeichnet. Ansonsten hat sich dieser Wortschatz in den Sprachen Europas nur in Spuren erhalten, wie es auch im amerikanischen Englisch nur wenige Wörter der Eingeborenen gibt. So dürften „Eis“, „Gemse“ und „Käse“ auf die Zeit zurückgehen, als man in Europa Vaskonisch sprach. Indoeuropäische Herleitungsversuche für diese Wörter galten seit jeher als problematisch; sie sind durch die vaskonischen Etymologien jedenfalls besser erklärt.

Unterstützung findet Vennemann nun in der Genforschung, so zum Beispiel in einer Studie am männlichen Y-Chromosom (Science, Bd.  290, S.  1155, 2000). Demnach gehen 80 Prozent der heute lebenden Europäer auf dieselbe Urbevölkerung zurück, unter den Basken ist der Anteil noch höher. Nur 20 Prozent der heutigen Europäer stammen hingegen von jungsteinzeitlichen Bauern ab, die offenbar die Überbringer von Ackerbau und Viehzucht waren: den Indogermanen.


Bildunterschrift:

Bei der Deutung von Ortsnamen muss man nur die Augen offenhalten. Denn meist beschreiben sie die Umgebung – wie auch beim walisischen Dorf mit dem längsten Namen der Welt: „Die Marienkirche bei der weißen Esche über dem Strudel und die Kirche Sankt Tysilios bei der roten Höhle. “

Foto: SZ-Archiv

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ArtikelSZ vom 16.01.2001 - Umwelt, Wissenschaft, Technik
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