Nachruf

 

PROF. DR. ERICH NEU

 

geb. am 26. November 1936 in Wetzlar, gest. am 31.12.1999 in Bochum

 

Obwohl wir schon in den letzten Monaten erkannten, dass die schwere Krankheit tiefe Spuren in seiner Konstitution hinterlassen hatte, überraschte uns der Tod unseres hochgeschätzten Kollegen doch zutiefst, umso mehr, als er in seinen letzten Gesprächen, wie immer, eine persönliche Offenheit und Freundlichkeit ausstrahlte, trotz der verheerenden Nachrichten über die Zukunft seines Faches an der Universität, die ihn sehr tief trafen, zumal man in früheren Jahren von Seiten mehrerer Rektoren dessen besondere Bedeutung für die Universität immer hervorgehoben hatte.

 

Das Sprachwissenschaftliche Institut und die Philologische Fakultät verlieren mit ihm einen Kollegen, der über lange Jahre den Stil des Instituts und der Fakultät wesentlich mitprägte. Das konsequente Streben nach wissenschaftlicher Qualität und philologischer Genauigkeit im höchsten Sinn des Wortes war hier gepaart mit einer außerordentlichen Menschlichkeit, die immer wieder den Ernst der Sache mit dem Humor in menschlicher Souveränität verbinden konnte. In langen Jahren gemeinsamer Leitung des Instituts hat es keine einzige tiefgreifende Verstimmung gegeben. Alle Institutssitzungen waren von gegenseitigem Verständnis, persönlichem Vertrauen und dem Bewusstsein der gemeinsamen Bemühung um die Sache geprägt.

 

Unser Kollege Neu wurde 1936 in Wetzlar geboren und blieb dort bis zu seinem Studium in der nahe gelegenen Universität Marburg. Dort wurde er 1966 promoviert, habilitierte sich 1972 in Göttingen und erhielt die Venia legendi für Historisch-Vergleichende Sprachwissen­schaft und für Hethitologie. 1976 wurde er an die Ruhr-Universität Bochum berufen. Er leitete seither das Institut als Institutsdirektor im Wechsel mit mir als Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Sprachwissenschaft. In der akademischen Selbstverwaltung hat er sich sehr engagiert: Er war Dekan von 1978 bis 1979,  Prodekan von 1979 bis 1980 und langjähriges Mitglied des Universitätsparlaments.

 

Neben seiner Tätigkeit in Forschung und Lehre an der Ruhr-Universität hat Herr Neu mit großer Energie in der Kommission für den Alten Orient der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz gewirkt, wo er seit 1992 als Nachfolger seines Lehrers H. Otten den Kommissionsvorsitz innehatte. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte die Betreuung der Texteditionen "Keilschrifttexte aus Boghazköy"  und der Publikationsreihe "Studien zu den Boghazköy-Texten", die zu den weltweit angesehensten Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Hethitologie und verwandter Gebiete gehören. Daneben hat er das einzigartige "Boghazköy-Archiv" der Mainzer Akademie weiter ausgebaut.

 

Da die Indogermanistik und die allgemeine Sprachwissenschaft im Verlauf des Jahrhunderts sehr verschiedene Wege gegangen waren, lag auch Herrn Neus Forschungsgebiet dem meinen sehr fern. Trotzdem war ich von seinem Forschungsansatz, den ich bei seinen ersten öffent­lichen Vorträgen in Bochum hörte, fasziniert. Auf der Grundlage sehr sorgfältiger und detail­lierter Untersuchungen des Hethitischen griff er die Methodik der bisherigen Indogermanistik an, die seit mehr als einhundertfünfzig Jahren die indogermanische Ursprache so zu rekon­struieren versuchte, dass alle bekannten antiken indogermanischen Sprachen als quasi gleichzeitig existierende Entwicklungsstufe berücksichtigt wurden, ein Vorgehen, das gerade für eine historische Disziplin unangemessen war. Es war nämlich unbestritten, dass die  Texte des Hethitischen gegenüber den Texten der anderen altindogermanischen Sprachen ein etwa tausend Jahre früheres Stadium repräsentieren. Berücksichtigt man dies, und zum Beispiel die Tatsache des geringer differenzierten oder anders ausgebildeten Formensystems des Hethitischen, so erkennt man, dass das traditionell rekonstruierte Urindogermanische gar nicht, wie meist behauptet, die indogermanische Grammatik in ihrer Vollform darstellt, die sich in ihrer weiteren historischen Entwicklung nur abschleift, sondern dass die gramma­tischen Formen des Indogermanischen sich erst in den Zeiten der bekannten historischen Texte, insbesondere denen des Hethitischen, entwickelten. Diese These war damals noch Minderheitenmeinung; in Unterhaltungen der letzten Jahre konnte ich mit Freude feststellen, dass Herrn Neus Ansatz heute weithin anerkannt ist und nun die Mehrheitsmeinung darstellt.

 

Angesichts der so bewiesenen fundamentalen Bedeutung des Hethitischen für die Indo­germanistik habe ich auch seit Jahren mit großer Spannung die Berichte von Herrn Neus langjährigen jährlicher Teilnahme an den Grabungen der Ausgrabungsstätte Boghazköy in der Türkei verfolgt. Dies bildete auch die Grundlage der oben erwähnten Tätigkeit an der Mainzer Akademie. Ganz besonders spannend waren die Berichte von dem sensationellen Fund einer hethitisch-hurritischen Bilingue, durch deren Bearbeitung Herr Neu zum anerkannten Fachmann für die in weiten Bereichen noch undurchsichtige hurritische Sprache geworden war. Mit besonderer Faszination hat er von der in den letzten Jahren zunehmenden Inter­disziplinarität der archäologischen Ausgrabungen berichtet, bei denen nicht nur die sprach­lichen Zeugnisse, für die er maßgebend war, sondern schließlich auch die chemische und biologische Analyse der Überbleibsel der Siedlungen eine zentrale Rolle spielen und es zunehmend ermöglichen, sich ein Bild von den Lebensformen des zweiten Jahrtausend im Zentrum der bedeutenden hethitischen Macht in der damaligen Welt zu machen.

 

gez. Helmut Schnelle